Inklusion

Probleme schulischer und beruflicher Wiedereingliederung von Kindern und Jugendlichen nach Schädelhirntrauma (Rainer Lasogga, Impulsvortrag auf dem 6. Nachsorge-Kongress in Berlin 2012)

Die Integration von Kindern mit einem SHT in Schule und Beruf stellt die aufnehmenden Institutionen vor vielschichtige Probleme, verbirgt sich doch hinter der Diagnose eines SHT ein hinsichtlich Ausmaß und Symptomatik sehr unterschiedliches Krankheitsbild. Die Folgen reichen von leichten Aufmerksamkeits- und Merkfähigkeitsstörungen über einen begrenzten Zeitraum nach leichten bis mäßigen Gehirnerschütterungen bis zu schweren Einschränkungen der Motorik, der Kognition und der Verhaltenssteuerung nach einem schweren Schädelhirntrauma.

Kognitive Leistungseinschränkungen finden sich im Bereich der Sprache, sowohl als Bild einer kindlichen Aphasie als auch als kognitive Dysphasie, im Bereich der Lern- und Merkfähigkeit sowie des Gedächtnisses, im Bereich der auditiven wie visuellen Informationsaufnahme und -verarbeitung, in der Steuerung der Aufmerksamkeit und der Störung der Handlungsplanung und Handlungskontrolle. In der Summe der auftretenden Leistungseinschränkungen kommt es zu unterschiedlichen Ausmaßen von Einschränkungen der allgemeinen intellektuellen Leistungen. Alle diese Einschränkungen haben eine bedeutsame Auswirkung auf schulisches Lernen.

Welche der einzelnen Leistungsbeiche in welcher Weise in ihrer Differenziertheit betroffen sind, erschließt sich in der Regel nicht der einfachen Verhaltens- und Leistungsbeobachtung. Lassen Sie mich versuchen, dies an einem Beispiel zu erläutern: Ob hinter einer Einschränkung zum Beispiel des Leseverständnisses, eine Einschränkung auf der Ebene sprachlicher Verarbeitung, eventuell in Folge einer bestehenden aphasischen Grundstörung besteht, eine Einschränkung des Gedächtnisses, so dass der Inhalt der gelesenen Texte nicht erinnernd wiedergegeben werden kann oder eine massive Problematik exekutiver Funktionen, die es dem Lesenden nicht erlaubt, die relevanten Textinhalte sicher zu erfassen, oder vielleicht nur eine einfache Störung der Aufmerksamkeitssteuerung, so dass nur einzelne Details wirklich bewusst aufgenommen werden, dies erschließt sich nicht mit einer unterrichtsüblichen Leseprobe mit anschließender Inhaltswiedergabe. Eine valide Aussage über die zugrunde liegenden Einschränkungen liefert hier nur eine differenzierte neuropsychologische Diagnostik, die mit Hilfe standardisierter und normierter Testverfahren ein exaktes Abbild der unterschiedlichen Leistungsbereiche liefern kann. Neuropsychologische Leistungsmodelle liefern dann Erklärungsansätze für das Zusammenwirken einzelner Funktionen, so dass dann eine gezielte kognitive, neuropsychologisch fundierte Therapie angesetzt werden kann. In unserem Beispiel kann auf dem Hintergrund einer umfassenden Diagnostik entschieden werden, ob das Kind eher von einer Aphasie-Therapie, einer kompensatorischen Therapie der Gedächtnisfunktionen, einer Therapie exekutiver Funktionen oder von einem gezielten Aufmerksamkeitstraining profitieren kann.

Ein weiterer Aspekt, der die Reintegration von Kindern nach einem SHT schwierig gestaltet, ist die Tatsache, dass Kinder als ein System in Entwicklung zu betrachten sind. Dies bedeutet, dass Ressourcen in Form bereits vorhandenen und gefestigten Wissens, auf das zurückgegriffen werden kann, nicht oder nur begrenzt zur Verfügung steht. Kinder sind in ihrer kognitiven Entwicklung auf Erkenntniszugewinn angewiesen, Mechanismen, die das Lernen umfangreicher neuer Informationen ermöglichen, sollten also intakt sein. Wie aber eben ausgeführt, sind eben jene Funktionen jedoch häufig bedeutsam eingeschränkt: Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprache und Exekutive Funktionen. Werden Leistungsdefizite nicht frühzeitig erkannt, gezielt therapiert oder kompensatorisch ausgeglichen, besteht die Gefahr eines schleichend sich vergrößernden Entwicklungsrückstandes gegenüber gesunden Gleichaltrigen.

Die Entwicklung neuropsychologischer Faktoren verläuft nicht zeitgleich, exekutive Funktionen entwickeln sich zum Beispiel deutlich später. Gerade bei Kindern, die bereits in jungen Jahren von einem SHT betroffen sind, muss die Entwicklung über Jahre hinweg verfolgt werden, da nicht alle Auswirkungen eines SHT bereits kurze Zeit nach dem Traum erkennbar sind. So ist bei einem Kind, das ein SHT mit sechs Jahren erleidet, kurz nach dem Ereignis nicht einzuschätzen, ob es nicht im Verlauf der kommenden Jahre Störungen der exekutiven Funktionen entwickeln wird. Eine Langzeitbetreuung von Kindern nach einem SHT ist daher zwingend erforderlich.

Lassen Sie mich noch auf ein weiteres entwicklungsdynamisches Missverständnis zu sprechen kommen, auf die spontane Remission. Prozesse der vollständigen Erholung von bedeutsamen Leistungsdefiziten ohne gezielte Intervention lassen nicht beobachten. Wir haben im Hegau-Jugendwerk in einer umfangreichen Studie nachweisen können, dass sich Rehabilitanden, die erst nach einer verlängerten Periode von über einem Jahr nach SHT zur ersten gezielten Maßnahme zu uns kamen nicht unterscheiden von Kindern und Jugendlichen, die unmittelbar nach der Akutphase zu uns zur Rehabilitation kamen. Eine Studie im Rehazentrum Friedehorst von Frau Dr. Ritz und meiner Kollegin Barbara Benz konnte nachweisen, dass sich ohne gezielte weitere neuropsychologische Unterstützung Funktionseinschränkungen in ihrer Auswirkung auf intellektuelle Leistungen mit der Zeit immer stärker leistungseinschränkend auswirken können. Neuropsychologische Funktionseinschränkungen wachsen sich also nicht aus, sie bleiben in der Regel dauerhaft bedeutsam und erfordern beim einzelnen Kind eine kontinuierliche gezielte Förderung und kompensatorische Rücksichtnahme.

Einschränkungen der kognitiven Leistungsfunktionen wirken sich unmittelbar auf soziale Fertigkeiten aus. Betroffene Kinder können nicht ohne Unterstützung am sozialen Alltag ihrer Gleichaltrigengruppe teilnehmen, übersehen häufig soziale Signale oder interpretieren sie falsch, es kommt zu Kommunikationsproblemen. Störungen in der Verhaltenssteuerung lassen diese Kinder zu Außenseitern werden. So können zu den primären, durch die Schädigung selbst verursachte emotionale Störungen sekundäre Beeinträchtigungen hinzutreten. Bedeutsam für die schulische Integration sind weiterhin motivationale Probleme, die rasch auftauchen, wenn Kinder mit spezifischen Leistungseinschränkungen trotz größten Bemühens nicht zu schulischem Erfolg gelangen.

Die fraglose gesellschaftliche Verpflichtung, Kindern und Jugendlichen nach SHT trotz ihrer bestehenden Einschränkungen eine Lebensperspektive zu eröffnen und ihnen die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen zugänglich zu machen, läuft schlußendlich darauf hinaus, ihnen Bildung ebenso zugänglich zu machen wie gesunden Kindern. Auf welchem Wege diese Anforderung umgesetzt werden kann, wird in der aktuellen Auseinandersetzung um die Möglichkeiten der schulischen Inklusion diskutiert.

Bevor man in theoretische Diskussionen einsteigt, scheint es sinnvoll, konkrete Rahmenbedingungen zu definieren, die ein Kind mit „durchschnittlichen Folgen“ eines SHT bei einer gelungenen schulischen Integration benötigt:

  • eine umfassende neuropsychologische Diagnostik,
  • eine darauf aufbauende Rehabilitation zur Entwicklung und Erprobung einer multiprofessionellen therapeutischen Strategie,
  • eine ambulante Begleitung bei der Umsetzung einer multiprofessionellen Therapie im Rahmen einer ambulanten Behandlung am Heimatort.

Für die Schule selbst ist Voraussetzung:

ein ausreichender Kenntnisstand des Lehrerkollegiums über:

  1. Motorische Einschränkungen
  2. Kognitive Einschränkungen
  3. und die zeitliche Entwicklungsperspektive solcher Einschränkungen (nicht vorübergehend)
  4. sowie die motivationalen Auswirkungen
  5. und die Auswirkungen auf das Verhalten.

Im Rahmen des Unterrichts:

  1. Rücksichtnahme auf motorische Einschränkungen
  2. zeitlicher Ausgleich bei schriftlichen Arbeiten, Klassenarbeiten etc. im Sinne eines Nachteilsausgleichs
  3. im Unterricht mit einer Ausstattung des Arbeitsplatzes mit PC/Laptop
  4. barrierefreie Zugänglichkeit aller Räumlichkeiten für rollstuhlabhängige Kinder.

Rücksichtnahme auf kognitive Einschränkungen wie:

a. Aufmerksamkeitsstörungen, die bei Kindern nach SHT üblich sind, nicht mit einem ADHD zu verwechseln sind, die ein individuelles differenziertes Eingehen auf die differenzierte Symptomatik erfordern, die Hilfestellung ebenso notwendig macht wie die Vermeidung unangebrachter Kritik, die - falsch angesetzt - weitreichende motivationale Störungen hervorrufen oder begünstigen kann. Große Klassenverbände sind per se Gift für die gezielte Informationsaufnahme bei diesen Kindern. Anders als bei gesunden Kindern sollte das Lernumfeld eher spartanisch ausgestattet sein, da buntes Drumherum eher ablenkend denn stimulierend im positiven Sinne wirkt.

b. Gedächtnisstörungen. Eine Vielzahl betroffener Kinder unterliegt Störungen des Arbeitsgedächtnisses oder der langfristigen Speicherung. Lernen neuer Inhalte gelingt nur durch wiederholende und doch abwechslungsreiche Darstellung von Sachverhalten, durch Einüben von Lernstrategien mit gezielter Aufarbeitung von Lernstoff.

c. exekutive Störungen. Betroffene Kinder benötigen eine Vermittlung von systematischen Strategien, ein übersichtliches klares Regelwerk, nach dem sie Lernen und sich verhalten können, eine eher direkte, nicht selten zunächst durchaus direktive Anleitung und Begleitung beim Lernen.

Die letzten drei Beispiele ließen sich fortführen, sie reichen aber aus, um die Komplexität der notwendigen stützenden Maßnahmen zu illustrieren.

BAG zur Inklusion

Ohne Einschränkung bekennt sich die BAG zur Zielsetzung der UN-BRK, zur Forderung nach Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung und deren Zugang zu Teilhabe und Aktivität im gesellschaftlichen Leben. Für Kinder und Jugendliche nach einem SHT unterstützen wir die Forderung nach einem gemeinsamen schulischen Lernen. Es muss aber auch gewährleistet werden, dass die bisherige Qualität der Bildung erhalten bleibt. Inklusion muss das Kindeswohl berücksichtigen und daher kann man das Ziel des UN-BRK bei unserem schulischen Standard nicht allein dadurch erreichen, dass man gesunde und behinderte Kinder einfach zusammenbringt. Am obigen Beispiel der SHT-Kinder war nachzuweisen, dass wir hohe qualitative Anforderung an ein inklusorisches Bildungssystem stellen müssen.

Voraussetzungen einer gelungenen Inklusion

Unterscheidung zielgleich/zieldifferenter Unterricht

  • SHT-Kinder und Jugendliche benötigen, trotz evt. Befähigung für zielgleichen Unterricht ein hohes Maß an individualisierter Unterstützung durch eine pädagogische Unterrichtsassistenz
  • Herausforderung individualisierter Unterricht -
    Lernbedürfnisse hirngeschädigter Kinder angemessen zu begleiten, im Lern- und Arbeitsverhalten und in der Unterrichtskommunikation
  • Differenzierte Lernangebote, die unterschiedlichste Lernvoraussetzungen, Lernwege und Lerntempi berücksichtigen, sind in der Praxis eher selten
  • Herausforderung Soziale Erziehung - intensive Begleitung: „Anderssein als Bewusstseinsprozess“ - muss sich als Unterrichtsthema etablieren und benötigt intensiver Beachtung der Lehrkräfte
  • Gute Erfahrungen bei ausreichender sonderpädagogischer Versorgung der Schulen
  • Gemeinsame Planung und Umsetzung von inklusorischem Unterricht- eng bezogen auf die jeweiligen Bedürfnisse

sonderpädagogischer Ambulanzpädagogik reicht meist nicht aus.

Entwicklungsnotwendigkeiten

  • Veränderung von Schulsystemik
  • Unterrichtswirklichkeit an den Regelschulen benötigt Entwicklungszeit
  • Homogenes Lernverständnis mit einem System sortierender Leistungsbewertung noch immer Praxis
  • Personelle und materielle Versorgung der Grundschulen lässt kaum Spielräume, um didaktisch-methodische Ansätze eines differenziert-individualisierten Unterrichts umzusetzen
  • Angemessene Fort- und Weiterbildung der Kolleginnen an den Regelschulen
  • Zwei unterschiedliche pädagogische Grundkonzeptionen müssen zueinander finden
BAG Nachsorge

Kontakt

BAG Nachsorge erworbener Hirnschäden bei Kindern und Jugendlichen

Rainer Lasogga
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Tel.: 07733 3603705
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